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Wir gedenken des Kriegsendes. Einladung am 10. Mai, 18 Uhr in der St. Matthäuskirche Berlin

Lea Rosh: Kanzelreden zu den Seligpreisungen am 10. Mai, 18 h, St. Matthäuskirche Berlin

„Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen“

Aber das Kriegsende hat ja nicht 1945 begonnen. Sondern früher.
Wann hatte das für mich begonnen? 1944. In Genthin. Dahin waren wir, meine Mutter mit mir und mit meinen beiden Schwestern, älter als ich, und meinem Bruder, er war jünger, evakuiert worden. Wir hatten nicht in Berlin bleiben dürfen, denn der Führer brauchte für seinen Endsieg ja auch alle Kinder. Selbst vierteljüdische Kinder. Das waren wir in der Nazi-Ideologie, reiner Schwachsinn. Meine Mutter war Halbjüdin. Genau so töricht. Mein Großvater war Jude. Volljude, um im Nazijargon zu bleiben. Er war so klug gewesen, Hitlers „Mein Kampf“ zu lesen. 1926. Danach beschloss er, dass er mit seiner zweiten Frau, die Mutter meiner Mutter war sehr jung gestorben , mit meiner Mutter und meinem Vater nach Amerika auswandern würde. Meine Mutter war entsetzt: „ Wieso auswandern? Nach Amerika? Warum?“ „Weil er uns alle umbringen wird“ , erklärte mein Großvater.  „Wieso uns“ , fragte meine Mutter, „wir sind doch ‚Westjuden‘, kommen aus einer reichen Familie, Gerson, da wird er uns gar nichts antun“. Mein Großvater, Opernsänger, hatte fünf Jahre an der Met in New York gesungen, in NY also gelebt. Er wischte alle Einwände weg: fremde Sprache, Hochhäuser, andere Kultur- „ Er wird uns alle umbringen, Westjuden, Ostjuden, alle Juden!…Man muss: Rechtzeitig begreifen! Rechtzeitig handeln!“
Er besorgte die Auswanderungspapiere. 1926 ging das noch sehr einfach. Er warnte seine Brüder, deren Söhne-, niemand hörte auf ihn. Sie kamen alle um.
Mein Großvater starb vor der Auswanderung an einem Herzinfarkt. Und meine herrliche, liebe, dumme Mutter gab die Papiere zurück. Auch sie hatte „Mein Kampf“ nicht gelesen. Nie.
Sie hatte nicht begriffen. Und so nahm eben alles seinen tödlichen Verlauf.
Mein Vater, viel zu alt für die Wehrmacht, wurde dennoch mit 46 Jahren eingezogen. Er saß in der Schreibstube. Mein Vater hatte nie Soldat sein wollen. Er wollte Familienvater sein. Vater von vier Kindern. Er schrieb jeden Tag an meine Mutter einen Brief. Situationsberichte und Liebesbriefe. Ich habe sie alle. Jeder Brief schloss mit: O sole mio.
Er kam um, in Polen. In der Nähe von Krakau. Das heißt: nahe Auschwitz. Ich habe einmal, bei Dreharbeiten, einer Fernseh-Dokumentation über Auschwitz, unter einem russischen Panzer, aufgebockt auf einem hohen Betonsockel, die Inschrift gelesen, über die Kompanie meines Vaters. Sie war hier „ aufgerieben“ worden, so stand es auf dem Metallschild. Hier also war sein Grab. Hier ist er unter einem russischen Panzer begraben worden. Der russische Soldat in dem Panzer, der meinen Vater begrub, konnte ja nicht wissen, dass er mit Auschwitz gar nichts zu tun hatte.
Warum hat denn niemand diesen irrsinnigen Krieg verhindert?

Nein, nicht Frieden stiften. Krieg verhindern. Mit allen Mitteln. Auch mit Gewalt. Das wäre das Gebot der Stunde gewesen.
Was konnte mein Vater für Auschwitz. Nichts. Gar nichts. Er wollte auch nicht in diesen verbrecherischen Krieg. Wir mussten ohne Vater aufwachsen. Ich habe das nie verwunden. Mein Kindheitstraum ging so: Ich fahre mit meinem Vater in der Straßenbahn. Er bezahlt für mich das Fahrgeld. Und hält mich an der Hand. Das war mein Kindheitstraum.
Es blieb ein Traum.

Er kam noch einmal zu uns nach Genthin: Front-Urlaub. Ende 1944. Für 1 Tag und nur 1 Nacht.
Wir brachten ihn zum Bahnhof. Meine Mutter flüsterte ihm zu: „Bleib! Ich verstecke Dich! Der Krieg ist doch bald zu Ende.“ Er küsste sie. „Nein“, sagte er leise. „Wenn sie mich finden, und sie würden mich finden, dann erschießen sie mich, Dich, und die Kinder“. Und zu meiner ältesten Schwester sagte er: „Paß gut auf, auf die Mami und auf die Geschwister, Du bist die älteste“.
Wir alle weinten. Der Zug kam. Er stieg ein. Winkte uns zu. Es war das letzte Mal, dass wir ihn sahen. Wir warteten. 30 Jahre lang. 30 Jahre Hoffnung. Vergeblich.  Er kam nie wieder.

Genthin, 1944: die Deutschen hatten ein englisches Flugzeug abgeschossen. Die beiden Piloten hatten den Absturz, verletzt, überlebt. Sie wurden durch die Stadt getrieben. Von johlenden HJ-Jungs mit ihren Lederriemen und Mistgabeln traktiert. Meine Schwester und ich standen auf der Straße. Wir sahen, wie die Soldaten zugerichtet wurden. „Mama, Mama, die armen Soldaten“, schrien wir meiner Mutter am Fenster im 1. Stock zu.  „Mach, dass Du deine jüdischen Kinder raufholst, Du Judensau“, brüllte die Frau im 2. Stock meiner Mutter zu. Meine Mutter tat, was die Frau gebrüllt hatte. Und ich fragte meine Mutter, was das denn sei, eine Judensau.
Ich bekam keine Antwort.

Frieden stiften? Oder mit Pech und Schwefel dazwischengehen, damit die johlende, mordende
HJ-Horde aufgehalten wird bei ihrem mörderischen Tun?
Ich entscheide mich für Pech und Schwefel.


Bevor die Russen die Stadt einnahmen, schickten sie ihre Stalinorgeln. Die Bewohner wussten, jetzt würden sie kommen. Im Garten, hinter dem Haus, hatten sie sich einen Betonbunker gebaut. Als
 meine Mutter mit uns vier Kindern in den Bunker wollte, hielten uns die Hausbewohner ein Schild entgegen. „Besetzt“. Und die Nachbarin fügte drohend hinzu: „ Juden haben hier keinen Zutritt“.

Frieden stiften? Nein, Vergeltung wäre mein Gebot gewesen. Vergeltung für all die Herabsetzung, die Angst, die Schmach.


1945. Am 8. Mai kam ein Mann mit einer Glocke daher: Alle Berliner, die Evakuierten, müssten sich mit Sack und Pack ans Ufer, an die Elbe begeben. Schnell. Schnell. Ein Schleppkahn würde kommen. Und uns nach Berlin zurückbringen.
Wie meine Mutter das geschafft hat, mit einer Kücheneinrichtung und einem Schlafzimmer an die Elbe zu kommen, schnell, schnell natürlich, habe ich nie verstanden. Da waren wir nun, am Ufer. Mit Sack und Pack. Es nieselte. Wir hatten Hunger. Und Essen nur für 1 Tag. Wir lagen ganze
7 Tage und 6 Nächte an der Elbe. Meine Mutter hatte meine beiden älteren Schwestern auf eine Lage Matratzen gelegt, meinen jüngeren Bruder und mich darüber. Man hatte von den Russen ja Schreckliches gehört. Vergewaltigungen, Vergewaltigungen.
Es kam ein älterer Russe zu unserem Matratzenlager, mit einer Kalaschnikow im Arm. Hob die Matratzen an, nickte, und setzte sich zu uns. Er blieb sitzen. Die Kalaschnikow immer neben sich.
Nach einigen Stunden machte meine Mutter ein Zeichen: Wir hätten Hunger, hieß das.
Der Russe ging, kam wieder. Mit einer Riesenschüssel, Graupensuppe, mit Fleisch. Viele der Evakuierten kamen blitzschnell zu uns. Die Schüssel war im Nu leer gegessen. Der Russe ging. Kam wieder, mit der vollen Suppenschüssel. Das wiederholte sich einige Male. Als meine Mutter und wir endlich etwas von der Suppe abbekamen, sagte der Russe, irgendwie auf deutsch und russisch, was wir kaum verstanden, dann aber eben doch verstanden: die Deutschen hätten in Russland seine Frau und seine vier Kinder getötet. Nun sollten wir, meine Mutter und wir, die vier Kinder, mit ihm nach Russland kommen. Seine neue Familie. Meine Mutter sagte gar nichts.
Sie signalisierte nur: Wir hätten Hunger. Und Angst. Er brachte immer wieder Suppe. Und blieb sitzen bei uns. Er blieb, Tag und Nacht. Wir blieben.
Nach 7 Tagen kam der Schleppkahn. Es war ein Kohleschleppkahn. Meiner Mutter wurde ein Abteil zugewiesen. So schnell sie konnte, verstaute sie unser jämmerliches Mobiliar. Einiges landete in der Elbe. Egal. Nur rein in den Schleppkahn, in den Kahn nach Berlin. Der Russe stand am Ufer. Schaute zu. Wortlos. Als der Schleppkahn beladen war, sagte meine Mutter zu ihm, dass wir nach Berlin fahren müssten, wir müssten einfach mitfahren, nach Berlin, ja, nach Hause, nach Berlin, denn sie wartet ja auf ihren Mann, ihren Mann, wir warten ja auf unseren Vater, unseren Vater ... Soldat... Krieg...Er verstand gar nichts. Sagte auch nichts. Stand da, ohnmächtig.
Der Schleppkahn legte ab. Unser Russe, der uns beschützt hatte, Tag und Nacht, stand am Ufer.
Mit seiner Kalaschnikow. Und rief uns dann, mit aller Kraft, aber mit gebrochener Stimme zu: “Mam, Du hattest doch versprochen...nach Russland...neue Familie ...alle Kinder, mitkommen...nach Russland... und nun ??...“ Er weinte bitterlich.
Wir winkten. Meine Mutter winkte. Und weinte auch.
Da stand er nun. Und stand, mit seiner Kalaschnikow im Arm, und weinte bitterlich.

Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Dieser russische Soldat, da bin ich gewiss, wird ein Kind Gottes heißen.
Aber: ein armes Kind. Ein verlassenes Kind. Ohne Zukunft. Ohne Gerechtigkeit.
Es gibt eben keine Gerechtigkeit.

Wir kamen in Berlin an. Osthafen. Einige Russen machten sich einen Spaß daraus, Schuhe und
Anzüge meines Vaters, die meine Mutter immer mitgenommen hatte, und auch ein paar Möbelstücke ins Wasser zu werfen. Es war uns egal. Wir waren in Berlin! Irgendwie schaffte es meine wunderbare Mutter, ein Möbel-Gefährt aufzutreiben, dass uns mit unserer restlichen Habe nach Schmargendorf brachte. Nach Hause.
Aber unsere Wohnung war besetzt. Eine Frau stand am Fenster und beschied meiner Mutter, dass nun sie in dieser Wohnung wohne. Mit ihrer Tochter. Und auch nicht daran dächte, uns einzulassen. Nachbarn halfen meiner Mutter und sagten ihr, dass diese „neue Mieterin“ eine NS-Parteigenossin sei, so sei sie an die Wohnung gekommen. Meine Mutter ging zur nächstgelegenen Behörde. Und verwies auf ihre jüdische Abstammung. Das half. Keine Schmach, keine Herabsetzung. Ein neues Zeitalter hatte für uns begonnen.
Noch am gleichen Abend konnten wir unsere Wohnung wieder beziehen.
Es gibt eben keine Gerechtigkeit?
Doch. Aber sie kommt manchmal halt auf sehr leisen Sohlen daher. Und man muss dafür etwas tun.
Selig sind, die Frieden stiften…
Manchmal habe ich meinen Frieden gefunden. Manchmal. Zu selten. Aber eben doch.