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16. Mai 2021: Lea Rosh Eröffnungsrede zu „Musikalisch-Literarische Stolpersteine“/ Hamburger Kammerspiele/ „Der alte und der neue Antisemitismus in Deutschland“

Als wir uns für diese Veranstaltung verabredet hatten, da ahnten wir nicht, wie schrecklich
zutreffend der Titel meiner Rede sein würde: „Der alte und der neue Antisemitismus in Deutschland“ -

Wir sind ihn eben nie los geworden, diesen unseren Antisemitismus.

Er ist da. Er war nicht weg. Er gehört offenbar zu uns. 
Wie schrecklich.

Es ist doch wirklich möglich, im Jahr 2021, 76 Jahre nach dem Kriegsende,
- dass in Münster, in Bonn, in Düsseldorf, Hannover, Gelsenkirchen, Berlin und an anderen Orten
  israelische Fahnen angezündet werden - 
- dass judenfeindliche Sätze herausgebrüllt werden, dass sie wagen, „Scheiß-Juden“ zu brüllen,
- dass jüdische Menschen Angst haben, in ihre Synagoge zu gehen
- dass Jüdinnen, dass Juden tätlich an gegriffen werden !

Und das in Deutschland, in diesem Land, das ihnen so Schreckliches angetan hat, das sie entrechtet,
vertrieben, ermordet hat! Niemals habe ich mir das vorstellen können. Niemals. 
Israelhass! In Deutschland!

Und dann gibt es die „Initative GG 5.3“, steht für Grundgesetz. Artikel 3, diese Initiative ist ein Zusammenschluss von Intendanten und Direktoren kultureller und wissenschaftlicher Institutionen, die die antiisraelische Boykott-Initiative BDS gutheißen, sie unterstützen. 
Diese Bewegung ist anti-israelisch, sie ist antisemitisch, sie zweifelt das Existenzrecht Israels an. 
Dabei hatte der Bundestag vor 2 Jahren die Bundesregierung völlig zu Recht aufgefordert, BDS-Aktivisten und deren Sympathisanten nicht mehr finanziell und organisatorisch zu unterstützen. 
Eine völlig richtige Vorgabe.
Ich hatte einigen Unterstützern dieser „Initiative“ geschrieben, habe versucht, sie aufzuklären.
Sie haben nicht reagiert.  
Ich kann nur sagen: wer das unterstützt, ist entweder dumm oder auch antisemitisch. 
Ist geistiger Brandstifter.
Und braucht sich nicht über die brennenden Israel-Fahnen heute zu erschrecken. Er/ sie hat sie mit angezündet.
Und dürfte weder Intendant/ Intendantin noch Direktor/ Direktorin einer kulturellen Institution in diesem Lande sein. 

Ein Hinweis für Lernwillige: Es gibt ein hervorragendes Buch darüber. Der Titel:
„Die Israel-Boykottbewegung“. Von Alex Feuerherdt und Florian Markl.

Doch nun zu meiner Eröffnungsrede.

 

Lea Rosh/ Für die Hamburger Kammerspiele

„Der alte und der neue Antisemitismus in Deutschland“


Mein Großvater war Jude. Also war meine Mutter im Sprachgebrauch der Nazis Halb-Jüdin. Was ist das denn, eine halbe Jüdin? Gibt‘s das denn, einen halben Menschen? So ging das eben bei denen. Und da die Nazis alle Kinder, wenn sie ein bisschen älter geworden waren, schließlich auch für den Endsieg brauchten, brauchten sie eben auch vierteljüdische Kinder. Also wurde meine Mutter mit uns vier Kindern, ich hatte zwei ältere Schwestern, einen jüngeren Bruder, ab 1943 aus Berlin evakuiert. Sie sollten ja nicht im Bombenhagel sterben. Obwohl Deutschland ja doch diesen Krieg gewinnen würde, wie wir es ständig hörten. Wie kamen dann die Bomberflugzeuge überhaupt zu uns? Mein Vater, 46 Jahre alt, wurde noch zur Wehrmacht eingezogen. Eigentlich war er zu alt dafür. Er durfte also deshalb in der Schreibstube sitzen. Dort schrieb er meiner Mutter jeden Tag einen Brief. Jeder endete mit: O sole mio. Meine Eltern haben sich soo sehr geliebt. Und mein Vater hat uns Kinder soo sehr geliebt. Meine Mutter und wir vier Kinder waren das Glück seines Lebens. Er wollte nie Soldat werden. Er wollte auch nie in die Partei eintreten. Als sie ihn vorluden und das Eintrittsformular vorlegten, sagte er einfach ‚nein‘. Das war möglich, auch wenn es die Ja-Sager später abgestritten hatten. Natürlich machte man dann keine Karriere mehr. Mein Vater sagte, er würde dafür die Bomben im Hause löschen, - wenn denn überhaupt Bomben in Berlin fallen würden, fügte er schnell hinzu. Er musste dann aber in die Wehrmacht. Er hasste die Uniform, er hasste die Wehrmacht, er hasste den Krieg, er wollte doch nichts als Familienvater sein. 

Mein Vater war Beamter, bei der Reichsbahn. Eines Tages wurde er zu seinem Chef vorgeladen. Der zeigte meinem Vater einen Brief. Mit der Schreibmaschine geschrieben. Dort stand: dass mein Vater mit einer Frau nicht-arischer Abstammung verheiratet sei. Und mit dieser Halbjüdin auch noch vier Kinder hätte! Der Chef erklärte meinem Vater, dass dieser Brief nicht die erste Denunziation sei. Es sei die dritte. Ob das denn stimme, mit der nicht-arischen Abstammung seiner Frau? Mein Vater sah das Papier noch einmal genauer an. Es war unsere, seine Schreibmaschine, mit der das geschrieben war. Das konnte nur unsere Nachbarin gewesen sein, die von meinen Eltern gebeten worden war, auf uns Kinder aufzupassen, wenn sie nicht zu Hause waren. Sie hatte sofort zugesagt. Und es auch mehrmals gemacht. 
Der Chef sagte: Er hätte ja nichts gegen Juden. Schon gar nichts gegen Halb-Juden. Oder Halb-Jüdinnen. Aber er könne meinen Vater nun nicht mehr langer halten: Die ersten beiden Briefe, also diese Denunziationsbriefe, habe er ja noch vernichten können, aber nun müsse er es eben tun. Obwohl Beamte ja eigentlich nicht entlassen werden dürften. Aber diese Denunziationen- 
mein Vater wurde also entlassen. Als Beamter!
Meine Eltern baten die Nachbarin nicht mehr, auf uns Kinder aufzupassen. Sie wunderte sich, dass sie nicht mehr in unsere Wohnung kommen sollte. 

Wir hatten eine andere, sehr nette Frau in unserer Straße. NSDAP-Mitglied. Trotzdem nett. Und sie mochte meine Mutter so sehr. Sie kam immer wieder zu meiner Mutter, wenn, wie sie sagte, „etwas gegen meine Mutter im Busch war“. Dann besorgte sie uns eine Evakuierungen. Immer wieder. Wir wurden vier mal evakuiert. Das erste Mal nach Königsberg. Unser Vater, schon bei der Wehrmacht, holte uns von dort zurück nach Berlin: „Lieber in Berlin, als in Ostpreußen“ sagte er, „nichts wie weg von hier, bevor die Russen kommen. Denn die werden kommen, so sicher wie das Amen in der Kirche“. Endsieg? Ja, für die Russen, nicht für die Deutschen. Das flüsterte er ganz leise meiner Mutter ins Ohr. Das war ja Defätismus. Hochverrat. Darauf stand die Todesstrafe!
Die nette Nazi-Frau kam wieder. Diesmal ging es nach Grube Erika. Meine Mutter vertrug den Kohlestaub nicht. Also zurück nach Berlin. Das nächste Mal landeten wir in Hoyerswerda. Die Frau, bei der wir läuteten, knallte die Tür sofort wieder zu, als sie uns da stehen sah: eine Frau mit vier Kindern! Als wir wieder und wieder läuteten, machte sie schließlich die Tür einen Spalt breit auf. Meine Mutter zeigte ihr die Einweisung. Widerwillig liess sie uns ein. Im Flur stand ein Sofa, Korbgeflecht, da durfte meine Mutter mit meinem kleinen Bruder schlafen, wir anderen Kinder lagen auf der Erde. Morgens schickte sie uns schließlich ins Dachgeschoss. Zeigte auf den Schrank: In dem hätte sich ihr Mann aufgehängt. Dort könnten wir unsere Sachen aufhängen. Das passte!
Wir bekamen nichts, aber auch nichts zu essen. Dabei roch es so gut in unserer Dachkammer, sie hatten eine Schlachterei im Erdgeschoss. Aber meine Mutter musste zur NS-Frauenschaft, einige Kilometer zu Fuß über die Landstraße, um etwas zum essen zu holen. Es war Winter. Meine arme Mutter rutschte aus, hatte eine Gehirn-Erschütterung. Und genug von Hoyerswerda.  Also, zurück nach Berlin.
Wieder kam die nette Nazi-Frau: Nun ging es nach Genthin. Wir hatten ein paar Küchenmöbel mitnehmen können, und die Ehebetten meiner Eltern. Das war Anfang 1944. Wir wohnten am Adolf-Hitler-Platz. Das war ja sehr passend.

Eines Tages wurden zwei junge englische Piloten mit ihrem Flugzeug abgeschossen. Das überlebten sie. Verletzt. Sie wurden durch die Stadt getrieben, von johlenden HJ-Jungs mit ihren Lederriemen und Mistgabeln traktiert. Das überlebten sie nicht. Meine Schwester und ich standen auf der Straße: „Mama, Mama“, schrien wir in den 1. Stock, „die armen Soldaten!“ „Mach, dass du deine Kinder raufholst, Du Judensau“, rief die Nachbarin, „sonst kannst du was erleben!“ Meine Mutter rief uns nach oben. Als wir sie fragten, was das denn sei, „eine Judensau“, sagte meine Mutter, das würde sie uns später erklären. Ich erinnerte mich: so etwas hatte ich schon einmal gehört, in Berlin, als ich mit meiner Mutter auf dem Wochenmarkt zum Einkaufen war: „Dir Judensau verkauf ich nichts!“, hatte die Gemüsefrau zu meiner Mutter gesagt. „Mami“, fragte ich, „was ist denn das, eine Judensau?“ Meine Mutter zog mich weg, nach Hause, bloß nach Hause. 

Aber da war das ja wieder da, die Sache mit der „Judensau“, in Genthin, am Adolf-Hitler-Platz. Ich wollte es dieses Mal nun aber wissen:
„Mami, was ist das denn, eine Judensau“? Meine Mutter erklärte uns etwas von einer „Judensau“, 
die gäbe es am Dom in Magdeburg, auch in Wittenberg, dem Dom, in dem Martin Luther gepredigt hatte. Ja, Martin Luther. Der, der schon im 16. Jahrhundert erklärt hatte, man solle den Juden ihre Gotteshäuser, ihre Synagogen anzünden. Unser Martin Luther? Und: Wieso sollten denn den Juden ihre Synagogen angezündet werden, wollte ich wissen? Meine Mutter versuchte weiter zu erklären. Aber sehr viel mehr wusste sie auch nicht.
Später habe ich mich etwas schlauer gemacht:  

Die „Judensau“ gibt es als Relief seit dem Mittelalter an 30 deutschen Gotteshäusern, auch in Köln, auch am Erfurter Dom, vor allem aber in Wittenberg, an der Stadtkirche, in der Luther predigte. 
Nur in Wittenberg wird es mit einer quadratischen Einlassung im Pflaster, direkt darunter, gut und entsprechend kommentiert. An allen anderen Kirchen bleibt das Relief einfach so bestehen.
Es ist ein Spottrelief: 
Es zeigt einen Rabbiner, der einem Schwein den Schwanz anhebt, ihm in den After schaut. Mehrere junge Juden saugen an der Zitzen. Schlimmer geht es nicht. Das Schwein ist für die Juden ein unsauberes Tier. Das, zusammen mit einem Rabbiner, der diesem Tier in den After schaut, dazu die Jungen, die an den Zitzen saugen- 
die Beleidigung ist total. Schlimmer geht es wirklich nicht. Und Luther? 

Ich zitiere aus Luthers Manifest mit dem Titel: „VON JUDEN UND IHREN LÜGEN“, 1543:
Luther wollte nicht nur Hass auf die Juden erwirken, er appellierte auch an den Sozialneid der Bevölkerung,  - Neid und Missgunst sind ja immer und besonders erfolgversprechend -,  
und forderte sie auf:
- „ihre Synagogen niederzubrennen
- „ihre Häuser zu zerstören und sie wie Zigeuner in Ställen und Scheunen wohnen zu lassen“
- „ihnen ihre Gebetbücher und Talmudim wegzunehmen“
- „ihren Rabbinern das Lehren bei Androhung der Todesstrafe zu verbieten“
- „ ihren Händlern das freie Geleit und Wegerecht zu entziehen“
- „ ihnen das „Wuchern“ (Geldgeschäfte) zu verbieten, all ihr Bargeld und Schmuck einzuziehen
     und zu verwahren“

Die Nazis hatten von Luther gelernt.  
So zum Beispiel stellte sich Ludwig Müller, 1934 zum Reichsbischof der Deutschen Evangelischen Kirche ernannt, schützend vor den Berliner Gauobermann der Deutschen Christen, Reinhold Krause, nach dessen Rede im Berliner Sportpalast 1933: 
Das Gebot der Stunde sei umgehend „eine Befreiung ...von jeder jüdischen Lohnmoral… und
von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten… Hierher gehört auch, dass unsere Kirche keine Menschen jüdisch-blütiger Art mehr in ihren Reihen aufnehmen darf“...
20.000 Zuhörer nahmen diese Rede begeistert auf. Und stimmten der Gründung eines „Entjudungs-Instituts“ begeistert zu. Zielsetzung: „Entjudung der Bibel“.  

Genthin. Mai 1945.
Man hörte schon die Stalin-Orgeln. Also: die Russen nahten. Die Nachbarn bauten sich im Garten schnell einen Bunker. Als meine Mutter mit uns vier Kindern auch in den Bunker wollte, sagten sie nur: „Judensau“! Und, mit allem Nachdruck: „Eintritt für Juden verboten“!
 
Doch es gab in unserem Haus auch eine andere Frau, blond und schön, die Frau des Hausbesitzers, Nazissin durch und durch, die meine Mutter liebte. Und ihr einmal sogar das Leben rettete. 
Meine Mutter hatte für uns eine Brühe gekocht. Sie hatte den Topf hochgehoben, die beiden Henkel rissen ab, die kochend-heisse Brühe ergoss sich auf ihren Oberkörper. Verbrennungen 3. Grades. 
In unserer Not riefen wir diese blonde Frau, wir wussten, sie war gelernte Krankenschwester.  
Und sie kam sofort. Und machte Umschläge und salbte die verbrannte Haut, Tag und Nacht. 
Bis meine Mutter außer Lebensgefahr war. 
Aber dieses Mal, als wir nicht in den Bunker durften, da war sie nicht da. Wir waren schutzlos. 
Wir mussten also in die Wohnung zurück. 
Ein junger Russe, von den Nachbarn in unsere Wohnung geschickt, nahm sich meine älteste Schwester vor. Meine Mutter hätte ihn fast mit unserem Judenstern, aus Stahl, erschlagen. 
Er nahm seine Kalaschnikow und rannte, so schnell er konnte, davon.

9. Mai 1945:
Ein Mann kam mit einer Glocke daher: Die Evakuierten aus Berlin sollten mit Sack und Pack an die Elbe. Schnell, schnell. Ein Schleppkahn würde kommen und uns nach Berlin bringen. Nach Berlin? Wie meine Mutter das schaffte, unsere Habseligkeiten aus Küche und Schlafzimmer so schnell zur Elbe zu schaffen, habe ich nicht in Erinnerung. Aber sie schaffte es. Wir warteten, an der Elbe,  unter freiem Himmel, auf den Schleppkahn. Es nieselte. Wir hatten nur für einen Tag etwas zum essen mitbekommen. Es hörte einfach nicht auf zu nieseln. Langsam wurde es dunkel. 
Kein Schleppkahn. 
Meine Mutter legte Matratzen auf den Rasen, meine beiden älteren Schwestern darauf, meinen jüngeren Bruder und mich auf die nächste Lage. Das durfte sich nicht wiederholen, die Sache mit  dem Russen. Man hatte ja schon so Furchtbares gehört.
 
Ein älterer Russe, auch er die Kalaschnikow im Arm, kam vorbei. Stutzte. Blieb stehen. Hob die Matratze an,-  und verstand. Und setzte sich zu uns. „Die Deutschen hätten seine Frau und seine vier Kinder erschlagen“, erklärte er, irgendwie. Nun hatte er hier seine neue Familie gefunden. Meine Mutter mit uns vier Kindern sollte mit ihm mitkommen, nach Russland. 
„Ja ja“, meine Mutter sagte weiter gar nichts dazu. Bedeutete ihm aber, dass wir Hunger hätten. 
Er ging. Und kam mit einer Riesen-Suppenschüssel zurück. Wieder und wieder kam er mit seiner Riesen-Suppenschüssel, denn alle Berliner, die neben uns lagerten, hatten ja auch nichts zu essen bekommen. Nun gab‘s Suppe, andauernd Suppe, mit Fleisch und Kartoffeln. 
Er saß bei uns, 9 Tage und 9 Nächte, saß bei uns, bei seiner neuen Familie, und passte auf uns auf. 
Viele Russen kamen vorbei. Und gingen, als sie ihn sahen, weiter.
Wir waren wohl behütet. 
Als der Schleppkahn schließlich kam und meine Mutter unsere paar Möbel mit aller Hast in der ihr zugewiesenen Koje verstaute  und der Kahn dann langsam, aber sicher ablegte, stand er da, 
am Ufer der Elbe, mit seiner Kalaschnikow, und konnte nicht fassen, was da geschah:
Er hatte nun wieder seine Familie verloren!
Er weinte bitterlich. 
Meine Mutter weinte auch. Und winkte. 
Und weinte auch. Aber wir wir mussten doch nach Berlin. Wir warteten doch auf unseren Vater, der zur Wehrmacht eingezogen worden war, noch mit 46 Jahren! 
Wir warteten 30 Jahre lang. Die Wahrsagerinnen machten uns Hoffnung. Immer wieder. 
30 Jahre Hoffnung. 30 Jahre lang Enttäuschung. 
Er kam nie. Nie wieder.

Seine Einheit war bei Krakau, also nahe Auschwitz, „aufgerieben“ worden, so stand es in einer Mitteilung, die meine Mutter dann statt eines Lebenszeichens zugeschickt bekam. 
Der russische Soldat, in dem Panzer, der meinen Vater unter sich begraben hatte, konnte ja nicht wissen, dass dieser deutsche Wehrmachtssoldat mit Auschwitz nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte, der mit „einer Judensau“ 16 Jahre lang so glücklich verheiratet gewesen war. 
16 Jahre. Zu wenig, für ein ganzes Leben.

Als wir in Berlin vor unserer Wohnung standen, war die besetzt. Eine Frau guckte aus dem Fenster. Nein, jetzt wohne sie hier, mit ihrer Tochter! Und unsere Nachbarn verrieten uns, sie sei eine NSDAP-Parteigenossin, deshalb habe sie die Wohnung auch bekommen.
Meine Mutter ging zur nächsten Behörde. Erklärte, etwas zitterig, dass sie Halbjüdin sei. 
Wie das denn nun sei für uns, mit unserer Wohnung? 
Jüdisch? Jüdisch? 
Das half. Das half! Jüdisch: half!  Keine Schmach mehr! Keine Herablassung mehr! Jüdisch! Das half! Keine Demütigung mehr! Keine „Judensau“ mehr! Wir konnten in unsere Wohnung! 
Ein neues Zeitalter hatte für uns begonnen! Keine Angst mehr, keine Schmähungen mehr, keine Judensau mehr!
Dachten wir. Dachten wir lange. Dachten wir bis vor einigen Jahren.
Langsam, schleichend, kam er aber wieder hervor, der Antisemitismus, den wir besiegt geglaubt hatten, ein für allemal. Aus der Mitte der Gesellschaft kroch er hervor. Langsam, zögerlich. 
Aber unaufhörlich. Permanent.
Das heißt: Er war nie weg, der Antisemitismus. Er war immer da. Hatte überwintert. Hatte abgewartet, hatte sich versteckt. 

Nun ist er aber wieder da. Mitten unter uns. Nicht mehr zu übersehen, nicht mehr wegzudiskutieren.
Schon 1945 begannen die ersten Schändungen jüdischer Friedhöfe in Deutschland.
Grabsteine wurden umgeworfen, NS-Embleme wurden auf Grabsteine geschmiert. 
Das ging so weiter, in den 50iger Jahren, in den 60iger Jahren. Und in den folgenden Jahren.
Arbeitgeber werden durch anonyme Schreiben aufgefordert, namentlich genannte jüdische Angestellte zu entlassen. 
Ein ehemaliger SS-Mann sagt in Darmstadt zu einem Juden: „Judenschwein, von euch haben sie noch zu wenig vergast“.
1965: Schild vor einem jüdischen Friedhof: „Raus mit den Juden“. Und nun steht da auch: 
„Heil Hitler“. Hakenkreuze.
1970: Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim. Sieben Menschen werden getötet. 
1975: KZ-Gedenkstätten in Hessen werden durch Rechte verwüstet. 
1982: Anschlag auf das israelische Restaurant „Mifgash“ in Berlin. 14 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. 
Und so geht es weiter und weiter und weiter. 
Die Friedhofsschändungen nahmen und nehmen kein Ende. 
Die Chronik antisemitischer Gewalttaten in Deutschland von 1945 – 2019 umfasst 89 Seiten!
Das Buch, aus dem ich zitiere, ist von Ronen Steinke. Es heißt: „Terror gegen Juden“- Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt - Eine Anklage. Erschienen im Berlin-Verlag.

Diese Chronik hört im Januar 2020 auf. 
Aber wir können ja nahtlos weitermachen:
Bei den Anti-Corona-Veranstaltungen wird ins Mikrofon geschrieen, dass auch daran die Juden schuld seien, an der corona, am Covid-19-Virus! Auf einem gelben Stern, aus Stoff, kann man wirklich lesen: nicht corona geimpft. Und das Eingangstor zu Auschwitz hat nun eine neue Inschrift: Impfen macht frei. 
Und schließlich: Zionismus stoppen – Schluss damit! - ISRAEL ist unser Unglück!

Und weiter, vor kurzem, in Berlin und Dresden geschehen:
Ein jüdischer Junge wird in seiner Schule so lange gemoppt, bis die Eltern ihn, entnervt, von dieser Schule nehmen. Der Direktor der Schule bedauert das. Mehr hat er dazu nicht zu sagen.
Ein junger Jude, die Kippa tragend, wird, neben einem Café, von einem jungen Mann mit einem Lederriemen geschlagen: „Du Juden-Sau“. Da ist es wieder! Eine junge Frau, selbst Jüdin, geht dazwischen. Andere, die danebenstehen, gehen eben nicht dazwischen.
Eine Schülerin, 14 Jahre alt, bittet einen Mitschüler, der nicht aufhörte, Judenwitze in der Klasse zu erzählen, diese Witze zu unterlassen. Er unterlässt das Witze-erzählen aber nicht. Er kommt mit dem Foto einer Rauchwolke in die Klasse, projiziert die Rauchwolke auf die Wand und sagt zu dem Mädchen: „Das da sind Deine jüdischen Freunde“. 
Nun bittet sie ihren Vater, sie zur Polizei zu begleiten. Das tat er. Der Schüler wurde von der Schule entfernt. Mehr nicht. Mehr aber nicht!
Ein Rabbiner wird in Berlin auf offener Straße geschlagen. Niemand ist da, der ihn schützt.
Er ist allein. Ausgeliefert. Keine Polizei. Niemand. Nichts.
Die Stadt Berlin hat die höchste Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland. Ich schäme mich für meine Stadt: Es waren im letzten Jahr 352 angezeigte Straftaten. Nur Bayern, das Land Bayern, hält da mit: dort sind es 353. Wohlgemerkt, das sind STRAFTATEN. Die Zahl der Vorfälle ist viel höher: 2019 waren es 881, 2018: 1.083! 2017: 947. 
Und viele werden gar nicht angezeigt!!

In Deutschland gab es 2018 insgesamt 1.799 antisemitische Straftaten.
                                     2019 waren es   2.032 antisemitische Straftaten.
                                      2020 waren es  2.356 antisemitische Straftaten.
Das sind die angezeigten, erfassten Straftaten.
Aber niemand weiß, wie hoch die Dunkelziffer ist.

Ich kann Sie nur bitten: Gehen Sie dazwischen, wenn Sie Zeuge sind, wenn Juden beschimpft oder bedroht werden. Gehen Sie dazwischen. Greifen Sie ein. Sehen Sie nicht einfach zu. 

Es ist doch eine große Gnade, dass uns unsere schrecklichen Verbrechen vergeben wurden. 
Es ist doch eine große Gnade, dass wir wieder aufgenommen wurden in die demokratische Völkergemeinschaft. 
Es ist doch eine große Gnade, dass wir in Israel willkommen sind.
Es ist doch eine große Gnade, dass Israelis nach Deutschland kommen und hier mit uns leben.
Wer hätte sich das vor 70 Jahren vorstellen können!
Aber: Es ist eine Schande für uns, dass vor jüdischen Einrichtungen Polizisten stehen müssen.
Wer hätte sich das vor 70 Jahren vorstellen können!
Wir müssen uns doch schämen, dass Juden bei uns nicht angstfrei leben können.
Wer hätte sich das vor 70 Jahren vorstellen können!

Was tun?


Ronen Steinke schreibt in seinem Buch, was es braucht (ich zitiere):
1. Hate crime, als Hass-Kriminalität, schärfer bestrafen.  JA!
2. Eine Justiz, die niemals die Argumentation antisemitischer Täter übernimmt.  JA!
3. Viel konsequentere Entlassungen von Rechtsextremen aus der Polizei.  JA!
4. Schutz jüdischer Einrichtungen.  JA! JA!. JA!

Wir haben einen Rechtsstaat, der die Existenz Israels zur Staatsraison Deutschlands erklärt hat.
Wir haben Politikerinnen, wir haben Politiker, die sich entsprechend verhalten.
Das ist gut so, das ist beruhigend.
Aber: Wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen! Nicht die Hände in den Schoß legen! 

Wir sind vom Nationalsozialismus befreit worden. Wir haben uns nicht selbst befreit. 
Stalingrad, August 1942 – Februar 1943, das war die Kriegswende im Osten. Dafür haben Millionen sowjetische Soldaten ihr Leben lassen müssen.
Sie sind für uns gestorben, für unsere Befreiung.
Landung in der Normandie, 6. Juni 1944, das war die Kriegswende im Westen. Dafür haben tausende, abertausende Amerikaner, Engländer, Franzosen, ihr Leben lassen müssen.
Am Ufer, auf den Hügeln der Normandie, ein Meer von weißen Kreuzen: 
die Gefallenen waren 18, 19, 22 Jahre alt. 
Sie sind für uns gestorben, für unsere Befreiung.

Und was tun wir? Ja, wir sind Demokraten geworden. 
Aber wir dürfen nicht die Hände in den Schoß legen. Wir müssen etwas tun! 
Wir dürfen unseren Rechtsstaat nicht beschädigen lassen. Nie und nimmer. Von niemandem!
Wenn uns Rassismus begegnet, wenn sich Antisemitismus hervorwagt, dann müssen wir kämpfen und unsere Demokratie und uns verteidigen. 
Denn: Wir sind stärker. Die Anderen sind schwächer.
Das müssen wir wissen: 
WIR SIND STÄRKER! 
Und: 
WIR SIND MEHR!

Lea Rosh, 1. Vorsitzende Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V.